Langhaarige barfüßige Frauen warfen sich in den schwäbischen Ausdruckstanz: ausgebreitete Arme, geschlossene Augen. Was aussah, wie kleine Kinder, die Flugzeug spielten, was eine Verbindungszeremonie mit der inneren Gaia. Aus dem Lautsprecher dröhnte Dragostea di tei, der 17 Jahre alte Sommerhit des Jahres 2004. „Ma-i-a hi, Ma-i-a hu, Ma-i-a ho, Ma-i-a ha ha“ schienen die perfekten Zeilen, um eines mit dem selbst zu werden. Die gelbe Hüpfburg wankte, jemand verteilte Blumen.
Eine stämmige Frau schwenkte eine Fahne – das Motiv konnten wir nicht genau erkennen oder zuordnen. Es wirkte wie eine Mischung aus Coronavirus-Symbolbild und Hakenkreuzfahne. Der Redner, der noch von der Mahnwache für „Schulien“ (Julian Assange) berichten wollte, bereitete sich vor. Der Redner, der nach der Anti-Corona-Revolution Wahrheitskommissionen gefordert hatte, hatte sich in den Hintergrund zurückgezogen. Vor uns im Parkverbot stand ein Auto, über und über mit FFP2-Masken bedeckt, das laut Aufschrift ein merkelkritisches Kunstwerk sein wollte.
Aber wir wollten den Ort nicht spüren, und erst recht keine schwarz-weiß-roten-Wahrheitskommissions-Fahnen bewundern. Wir wollten schwimmen gehen. Wir überquerten den Olympischen Platz, zeigten brav Tasche und Karten vor. Nur wenige Angestellte der Berliner Bäder haben den „Warum ich? Warum hier?“-Blick so perfektioniert, wie die Security am Olympiabad.
Wir machten uns entlang des Wegs über die oberirdischen Katakomben zum Sommerbad Olympiastadion. Bereits auf halber Strecke hörten wir „De-fense! De-fense!“-Rufe vom American-Football-Spiel nebenan.
Das Sommerbad Olympiastadion und der Olympische Platz – werktags sind überforderte Fahrschüler die Highlights des Ortes. Am Wochenende dreht das Olympiagelände auf. Kein Wunder: Würde ich an Erdkreise, Energielinien und morphische Sheldrake-Felder glauben, wären Olympiagelände und Sommerbad Energieknotenpunkte, Großkraftwerke des außerweltlichen Energienetzes.
Reitclub zu Hertha
Gelegen im schicken Berliner Westend, begann das Gelände seine sportliche Existenz als Reitplatz im Grunewald. Victor von Podbielski (in seiner Rolle als preußischer Landwirtschaftsminister) verpachtete das Gelände an Victor von Podbielski (selbe Person, in seiner Rolle als Präsident des Union Clubs für Pferdezucht und Galoppsport), um die Pferderennbahn Berlin-Grunewald zu errichten.
In diesen Reitplatz hinein wurde 1913 nach Plänen von Otto March das Deutsche Stadion (mit Berlins erstem Freibad) gebaut, um die Olympischen Spiele 1916 zu beherbergen. Das Freibad hatte eine Bahnlänge von 100 Metern. Die Reinigung des Wassers erfolgte vor allem durch im Becken lebende Fische wie Goldorfen oder Karauschen. Die Zeit von der Entscheidung für den Bau im Jahr 1911 bis zur Fertigstellung am 1. April 1913 mutet aus heutiger Perspektive unfassbar schnell an. Die Olympischen Spiele allerdings fielen kriegsbedingt aus. Deutschland wurde aus der olympischen Bewegung ausgeschlossen.
Nach Deutschlands Rückkehr in den Kreis bekam die Weimarer Republik im Mai 1931 den Zuschlag für die Olympischen Spiele 1936. Die Spiele sollten im Deutschen Stadion stattfinden, das nach Plänen von Werner March modernisiert werden sollte. Es begannen Planungen, das in mehrfacher Hinsicht schwierige Deutsche Stadion zu modernisieren. Die Tribünen sollten erhöht und die Kapazität auf 70.000 Zuschauer erwartet werden. Das Schwimmbad sollte aus dem Stadion an seine östliche Schmalseite wandern (hinter die heutige Ostkurve).
Im Januar 1933 erlangten die Nazis die Macht in Deutschland (halb griffen sie danach, halb wurden sie dorthin geschoben). Zwölf Jahre Völkermord und Vernichtungskrieg sollten folgen. Vorher nutzte die NS-Propaganda das Geschenk der Olympischen Spiele. Sie baute diese zu einem Event weltweiter Bedeutung aus, wie es Olympia vorher nie gewesen war. Dazu gehörte auch die nochmalige Umplanung des Olympiageländes. Hitler forderte das „größte Stadion, das größte Aufmarschgelände, das größte Freilufttheater.“
Die ursprünglichen Planungen Marchs wurden dem NS-Repräsentationsgedanken unterworfen. Statt das Deutsche Stadion zu modernisieren, entstand ein neues Gelände um Reichssportfeld und Olympiastadion mit Hockeystadion, Tennisstadion, Sportforum, Maifeld und Schwimmstadion. Das deutsche Stadion ebenso wie die Pferderennbahn wurden abgebrochen.
Was als preußisch-elitärer Pferdeclub begonnen hatte, war nun die zentrale Bühne mit globaler Ausstrahlung des NS-Staats geworden.
Im Vergleich zu dieser Vorgeschichte wirkt alle Nachgeschichte bedeutungslos. Es folgten auf dem Gelände eine Dauernutzung durch Hertha BSC, jahrzehntelange Nutzung von Geländeteilen durch die britische Militärregierung, Konzerte, Kirchentagsabschlussfeiern Weltmeisterschaften verschiedener Sportarten, für mich besonders interessant: die Schwimm-Weltmeisterschaft 1978.
Das Bad
Das Bad ist Teil des Olympiageländes, gebaut für Hochleistungssport vor Publikum.
Als Nutzung als eigenständiges Feld- Wald- und Wiesenfreibad war offenbar nie vorgesehen – wie der absurd-verschachtelte Weg zum Schwimmbad deutlich macht. Ich staune jedes Mal: das Olympiastadion. Gebaut als „größtes Stadion, mächtigstes Freilufttheater“ in einem komplett durchgeplanten Gesamtkonzept namens Olympiapark. Und der Weg zum Schwimmbad wirkt wie ein notdürftig hergerichteter Behelfspfad durch eine verlassene Kleingartenkolonie, die vor unfassbar langer Zeit in einem verlassenen Industriegelände errichtet wurde.
Berlin, du bist so Berlin. Spätestens wenn man seine Mitbadenden sieht, sind wir vom schönen, repräsentativen Leistungssportler weit entfernt und sehen ein Sommerbad für hitzegeplagte Berliner aller Schönheits- und Fitnessgrade. Immerhin mit einer spektakulären Aussicht auf das Olympiastadion und im Schatten einstürzender Altbautribünen. Das Becken wurde zweimal grundrenoviert (vor der WM 1978 und 2016). Die Geländeteile um das Becken scheinen sehr alt.
Das Bad liegt an der Längsseite des Olympiastadions, schließt nördlich in einem 90-Grad-Winkel an die Gegentribüne an. Das Becken ist in Nord-Süd-Richtung ausgerichtet. Der Schwimmer schaut Richtung Süden erst auf das Sprungbecken mit dem 10-Meter-Turm, dann auf die Rückseite der Gegentribüne.
Links- und rechts des Beckens liegen die bröselnden Tribünenbauten, für ursprünglich 17.000 Zuschauer. Auffallend ist, dass im Gegensatz zum eigentlichen Stadion keine Führer- oder Rednertribüne entstand. Links (östlich) liegt der Umkleidetrakt. Nördlich des Beckens schließt sich ein nachträglich gebautes Nichtschwimmerbecken an. Westlich hinter der Tribüne liegt die sogenannte „Frauenwiese“ – die einzige Wiese des Geländes.
An deren Ende steht wiederum das letzte erhaltene Relikt des Vorgängerbaus Deutsches Stadion: ein Säulengang, der zum ehemaligen dortigen Bad gehörte.
Sanitär und Schließfächer
Seit Corona sind die Umkleide und Duschen geschlossen. Inwieweit diese vom baufälligen Charakter des Geländes betroffen sind, überhaupt ohne Gefahr für Leib und Leben wieder eröffnet werden können, weiß ich nicht.
Als Duschen müssen zwei Kaltwasserduschen in Beckennähe reichen. Es gibt provisorische Umkleiden direkt neben dem Becken. Die aber sind so gut versteckt, dass ich sie bei allen Besuchen erst wahrnahm, als ich fertig wieder angezogen dabei war, zu gehen.
Schließfächer sind auch unterhalb der Tribünen. Es ist ein Vorhängeschloss (Bügelstärke 4 bis 7 Millimeter) notwendig. Spinde oder anverwandtes entdeckte ich keine.
Schwimmbecken
Metall, von der Renovierung 2016. Die Ausmaße von acht Bahnen je 50 Meter waren einst Olympia- und WM-tauglich. Reichen also auch mir vollkommen aus. Seit Corona in vier Abschnitte je zwei Bahnen unterteilt, was ich als ausgesprochen angenehm empfinde. Und angesichts dessen, wie voll es war, funktioniert auch die Aufteilung ganz okay.
Der 10-Meter-Turm – den jedes Bad alleine aus optischen Gründen haben sollte – war ebenso wie die anderen Sprungbretter aus Coronagründen gesperrt. Was den großen Vorteil hatte, dass die Rumbolzer, Arschbombenden und sonstigen Beckenrandanstrengenden sich im Sprungbecken austoben konnten. Wir selber konnten einfach hin- und herschwimmen.
Die Tribünen
2020 noch im besten Bröselzustand, waren die Tribünen 2021 hinter Gerüsten und Folien verpackt. Nicht etwa, um sie zu reparieren, das wäre zu teuer, sondern um den akuten Gefahrenraum zu sperren. Leider war die Wahl der Folie nicht die beste: Diese war Silber und neigte unter Sonneneinstrahlung zur starken Erhitzung. Was im Hochsommer bei einem Ort ohne Schatten vorkommen soll. Und so prangten hundertfach „Achtung Verbrennungsgefahr!“-Aufkleber auf den Schutzabsperrungen. Ich sehe Optimierungsmöglichkeiten.
Leider auch, durch die Tribünensituation sind Schwimmbecken und Aufenthaltsflächen getrennt. Zwischen beiden steht ein gigantisches Baugerüst, das eine 9.000-Personen-Tribüne verdeckt. Die Bereiche direkt am Becken sind gesperrt. Was so, dieses Wandern und in-einander-übergehen zwischen Sport und Chillen, Bad und Buch, erschwert. Dabei ist es doch genau dieses, was das Freibaderlebnis so besonders macht.
Gastronomie
Und so litt auch mein Gastronomieerlebnis. Der Snackpoint liegt am Sprungbecken. Er ist mir persönlich zu weit entfernt von jeder Liegewiese und sonstigen Aufenthaltsmöglichkeit. Wenn ich rate, dass die Pommesqualität ähnlich ist wie beim Snackpoint in Wilmersdorf, erwarte ich Gutes. Kein Essen, kein Kaffee.
„Das Multikulturelle Friedensfest“ gegen die Coronadiktatur hätte vielleicht einen Imbiss gehabt. Aber vermutlich hätten uns alle vorher angeatmet. Also hielten wir Abstand. Ich schloss die Augen, breitete die Arme aus und summte „hi hu ho haha“ vor mich hin. Hat wohl was mit der Aura des Ortes zu tun. Der Hertha-BSC-Schlachtruf lautet „Ha Ho He!“
Ergänzend
Ein Video zum Bad drehte Uta Maria Bräuer:
Zur Übersichtskarte aller Schwimmbadposts.
Beitragsbild: Bearbeitet (zugeschnitten) von: Berlin Jun 2012 067 (Olympiastadion) von: Michael Barera Lizenz. Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International
1 Kommentar
1 Pingback