Die Zukunft ist kalt. So kalt, dass ich japsen und hecheln wollte. Die ersten Stufen in das Hainhölzer Naturbadbecken hinab, mein Körper verfiel in Kälteschock. Mitte Juli. Ich versuchte, was man bei kaltem Wasser machen sollte. Treiben lassen, nicht bewegen. Den Herzschlag unter Kontrolle bringen, den Atem unter Kontrolle bringen und langsam ankommen.
Bewusst ein- und ausatmen und denken „Es ist so großartig hier. Es ist die Zukunft.“ An diesem bewölkten Julitag in Hannover gehörte die Zukunft mir alleine. Die Wassertemperatur betrug 18 Grad.
Gemessen am An- und Abbaden in der Nordsee war es kuschelig warm. Aber im Juli im Freibad schockte es meinen Körper. Die Lufttemperatur betrug vielleicht 20 Grad. Nur ein armer Rettungsschwimmer / FAB / FAB-Meister musste mir zusehen.
Bahn 1 – Ein Bad der Zukunft
Nachdem ich mich eingebibbert hatte, hätte ich juchzen mögen. Denn alles stimmte: Hannover, beste Stadt der Welt. Ein Naturbad, das heißt ein nicht-gechlortes Bad, dessen Wasser mit Hilfe von physikalischen Filtern und Pflanzen gereinigt wird. Und dazu unbeheizt: An einem 20-Grad-Tag keine populäre Haltung – aber bei immer heißeren Sommern, die durch immer höheren Heizmittelverbrauch erzeugt werden, gleich eine doppelgute Variante. Ich begann meine erste Bahn. Es gab keine Bahnmarkierungen, aber außer mir war niemand im Becken. Ich durfte ohne Rücksicht schief und quer schwimmen.
Allein das Wissen, hier auf 33-Meter-Bahnen zu schwimmen, lässt mich vor Freude japsen.
Bahn 2 – kalt, kalt, kalt, heiß heiß
Ich liebe Naturbäder. So selten wie ich sie besuchen darf. Sei es die Badi in Riehen oder das Quellenbad in Bunsoh. Es sind Freibäder, die ohne Chlor gereinigt werden. Das Wasser wird durch biologische Filter und Pflanzen vor Ort gereingt.
Menschen sprechen von „weicherem“ Wasser. Ich bin mir nicht sicher, ob dieses Reden Sinn ergibt. Aber es fühlt sich samtiger an, mehr nach See, weniger nach Reizung von Augen und Nase.
Ähnlich wie die Badi in Riehen, Kanton Basel-Land begann auch das Hainhölzer Bad sein Leben als „normales“ aber unbeheiztes Freibad am 27. Juni 1953 an der Hannoveraner Voltmerstaße. Betreiber des „Hainhölzer Bades“ waren die „Freien Schwimmer Hannover“. Das Freibad war Nachfolger eines 1950 errichteten Bades an Karl König Platz in Hainholz, ebenfalls errichtet durch die Freien Schwimmer. 1966 ging das Bad an die Stadt Hannover über, welche eine Flutlichtanlage errichtete und das Becken beheizte.
Auch an diesem Bad gingen die Jahrzehnte des Rückzugs des Staats aus der Öffentlichkeit und des Schwimmbadsterbens nicht vorüber. Mehrfach stand es kurz vor der Schließung. Ab 1994 betrieben es wieder die Freien Schwimmer. Und durch eine glückliche Fügung wurde das beheizte Chlorbad dann nicht komplett abgerissen. Sondern 2004 fiel der Beschluss, das Bad im Rahmen eines Rettungsprogramms-für-soziale-Brennpunkte durch ein unbeheiztes Naturbad zu ersetzen. Dessen Einweihung fand am 17. Mai 2008 statt.
Bahn 3 – Hannover, Hainholz, Handball
Hainholz. Ein Stadtteil von Hannover, den ich trotz jahrzehntelangem Aufenthalt im Großraum Hannover kaum kenne. Sicher habe ich gegen Hainholz einst Handball gespielt. Meine Erinnerung sagt etwas von einem guten, für uns schwierigen Team mit einem auffällig rothaarigen Spieler.
Der spärliche Wikipedia-Artikel fasst den Stadtteil sprachlich mit spitzen Fingern an. Das Autorenkollektiv ringt sich mühsam zu einem „Allerdings kann man Hainholz nicht als sozialen Brennpunkt bezeichnen“ durch.
Knapp 7500 Menschen leben in einem Niemandsland zwischen Güterbahnhof und Mittellandkanal. Zahlreiche Kleingartenkolonien in der Gegend weisen darauf hin, dass hier um 1900 niemand wohnen wollte. Keine zwei Kilometer von den herrschaftlichen Herrenhäuser Gärten existiert eine komplett andere Welt.
Der Park, dier die Umgebung des Bades umschließt, die „Grüne Mitte Hainholz“ verdanke ich einer typischen „Sozialer-Brennpunkt-Aufwertung“. Ich verdanke sie der Bund-Länder-Initiative „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die soziale Stadt“. Ich will nicht meckern.
Der Park, an einem ruhigen Sommertag, ist traumschön. Das Bad entsteigt wie aus einem Bilderbuch. Ich wünsche den Hainhölzern, dass es dort immer so ist, wie ich es erleben durfte.
Bahn 4 – Schwimmen
Einmal abstoßen, einige Meter unter Wasser, Arm aus dem Wasser, die Beine als Schleppanker, Arm auf das Wasser legen und dann kräftig ziehen. Ich genieße die leere des Beckens, die Chance den Hals flach zu halten und wirklich nach unten zu sehen. Atmen, Ziehen, Ziehen, Atmen.
Bahn 5 – Schließfächer
Ich tauche testweise einige Meter. Seewasser, es fühlt sich an wie Wasser in einem schönen See. Warum gibt es nicht mehr solche Bäder? Kälte, ach was. Ich weiß ja, dass im typischen Kleinen-Freibad-Nebengebäude mit Umkleiden auch eine warme Dusche auf mich wartet. (Die im Spätsommer den Energiesparmaßnahmen zum Opfer fiel.) Im Nebengebäude: Ein schöner großer Raum, mit Schließfächern, in denen ich auch mein kleines Rollköfferchen unterbringen konnte.
Bahn 6 – WMDE Paid Editing
Die Wikipedia und Wikimedia hatten mich in die Stadt gebracht. Ein Workshop zum Thema „PR und bezahltes Schreiben in der Wikipedia – wir mögen es nicht, aber wie gehen wir damit um?“ Zwei Tage in einem innerstädtischen evangelischen Tagungshaus, ernsthaft engagiert, eingesperrt. Auslauf gab es nur abends, aber mir blieb ein halber Sonntag: Am Kröpcke in Kindheitserinnerungen die Wände entlangstreifen. In der Georgstraße an diesen Technoclub denken, beim Blick auf den U-Bahn-Plan an den Rollenspielladen am Schwarzen Bären denken, an ein Tocotronic-Konzert vor 50 Leuten im „Bad“ – ein Club, kein Schwimmbad. (Es war allerdings einst das „Freibad in der Leinemasch“ – so hätte das Bad in Hainholz auch enden können.) Natürlich werde ich einen Blick auf das Niedersachsenstadion werfen und auf das Schützenfest.
Schwimmengehen gehörte auch zum Plan – diesmal ein mir komplett unbekanntes Bad in einem mir unbekannten Stadtteil. Ein Bad, das in dieser Form nicht einmal existierte, als ich Hannover verließ.
Bahn 7 – Kraul
Ernsthaft schwimmen will ich. Links atmen, Zug, Zug, Rechts atmen, Zug, Zug. Ich klappe unter Wasser die Hand mehr ab als normal. Ist das gut? Ach egal. Atmen, ziehen, ziehen, Atmen. Einatmen, Ausatmen, in einem Rhythmus kommen.
Bahn 8 – Denkwürdiges Schwimmen ist kalt.
Ich weiß nicht, warum. Aber fast alle meiner ausgeprägtesten Schwimmerinnungen involvieren kalte Temperaturen: das An- und Abbaden in der Nordsee, verschiedene Außenbecken bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt. Sicher hat bereits jemand dazu geforscht. Sicher könnte und sollte ich es googeln.
Aber meine Erfahrung reicht mir für heute: Denkwürdiges, schönes Schwimmen ist kalt. In wunderbarer Erinnerung bleibt das ebenso chlorfreie Quellenbad Bunsoh in Dithmarschen – mit frischem Quellwasser. So in Erinnerung wird mir das Naturbad Hainholz an diesem frischen Tag bleiben. Jeder Atemzug bleibt hart erkämpft, sagt mir „bewege dich schneller“. Und jeder ist intensiv.
Bahn 9 – Nachbarschaftsbäder
So sehr ich die Berliner Freibäder liebe. Sie sind Kolosse, jedes mit dem Einzugsgebieter mehrere Großstädte. Sie bieten alles, was Großstädte ausmacht, einschließlich einer stets aufmerksam Presse. Das ist in vielerlei Hinsicht besonders. Aber in meinem Herzen ist DAS Freibad immer das Nachbarschaftsbad – wo die Inhaber der Jahreskarte auf einer Liste stehen, die jede Person am Eingang auswendig kennt. Wo der einzige anwesende Journalist täglich vier Seiten im Lokalblatt füllen muss. Wo man die halbe Schule und die Nachbarschule am Nachmittag trifft.
Bahn 10 – Maschsee
Auch der Maschsee wäre schön gewesen, der See inmitten der Innenstadt. Es wäre ejn „Typisch Hannover“-Ausflug gewesen, ein Motiv für Postkarten. Aber hier hätte ich keine Bahnen gezogen. Ich hätte nicht den Steinattrappen-Sprungturm bewundert. Ich hätte mich nicht an einem extra Sprungbecken erfreut. Der Maschsee mit seiner Geschichte und dem historischen Strandbad reizte mich an. Aber dann zog es mich zum besonderen: Neue Naturbäder sind deutlich seltener als historische Strandbäder.
Bahn 11 – Alleine schwimmen
Denkwürdiges Schwimmen ist alleine schwimmen. Damals in Staaken-West als FABs und Rettungsschwimmer extra für mich ans Becken mussten. Oder im Stadtbad Oderberger bei einem der absurderen Schwumms meines Lebens. Oder hier: Nach 10 Bahnen bekomme ich schlechtes Gewissen gegenüber dem RettungsFAB, der mir zusehen muss, und verlasse das Bad. Es ist Zeit, mich zum Schützenfest Hannover zu begeben.