Es war der 11. September 2001. Mirko, Marco und ich waren aufgebrochen, uns die kleinstädtische Langeweile zu vertreiben. Es sollten einige Kilometer auf dem Rad in Wind und Sonne an die Nordsee werden. Im Rausgehen hatten wir gehört, dass ein Cessna-Kleinflugzeug an einem New Yorker Wolkenkratzer zerschellt war. So zumindest hatten wir die Nachrichten verstanden.
Knapp zehn geradelte Kilometer später erfolgte der Anruf: keine Cessna, sondern eine Passagiermaschine. Inzwischen war eine Zweite Maschine im World Trade Center eingeschlagen. Weitere Flugzeuge waren entführt worden, der weltweite Flugverkehr war zum Erliegen gekommen. Es war unklar, wer gegen die USA antreten wollte. Aber der dritte Weltkrieg schien unmittelbar bevorzustehen.
Der friedlichste Ort der Welt
Wir standen auf dem Deich in Hedwigenkoog, schauten auf das Panorama von Watt, Salzwiesen, Kohlfeldern und Entwässerungsgräben.
Wir fragten uns: „Rechtfertigt der nahende Dritte Weltkrieg den Abbruch einer Radtour?“ Wir entschieden uns gegen den Abbruch.
Wir waren in Hedwigenkoog. Der friedlichste Ort der Welt. Selbst ein Weltkrieg würde zehn Jahre brauchen, um hier anzukommen. Wir atmeten tief durch, hörten den Schafen zu, suchten den Turm der Wesselburener Kirche zwischen den Windrädern zu erblicken und rollten den Deich hinab.
Hedwigenkoog – der Ort, an dem die Dithmarscher Nordermarsch zu sich selber kommt. Dort wo Acker und Schaf und Windrad und Entwässerung die Landschaft prägen. Ein Koog, der so koogig ist, dass ein Bild aus Hedwigenkoog seit 17 Jahren den Wikipedia-Artikel zum Begriff „Koog“ illustriert.
Eine lange Straße, rechts und links gelegentlich ein Hof. An der einen Kreuzung im Ort liegt das Conventhaus, ein ehemaliges Gasthaus, das 2014 nach über 300-jähriger Geschichte schließen musste. Überregional bekannt ist der Ort, zumindest in Berlin, durch den Biokohl und Bio-Rote-Beete, die man in Berliner Biomärkten bekommt. Und eventuell durch den Weltkrieg 60 Jahre vor dem 11. September 2001.
An der westlichen Spitze des Hedwigenkoogs liegt der Westerkoog. Eine kleine Badestelle mit Übergang, Treppe ins Wasser und einer Handvoll Strandkörbe erwartet die Touristen.
Baden in schwimmloser Zeit
Am 23. Mai 2021 waren Madame und ich zum Schwimmen gekommen. Es war das Jahr der Seuche, der geschlossenen Bäder und des ewigen Winters. Bis nach Pfingsten hinein, war ich schwimmlos geblieben. Die Nordsee versprach kein warmes Wasser. Aber sie war offen. Immer. Pfingstsamstag waren wir bereits im Wesselburenerkoog gewesen, nun nach Hedwigenkoog/Westerkoog.
Der Ort, der etwa gleich weit von den beiden lokalen Attraktionen „Eidersperrwerk“ und „Büsum Hafen und Strand“ entfernt liegt. Der Ort, in dem Tourismus sich an Wohnmobilplätzen im Hausgarten zeigt, der so Landschaft und so wenig Ort ist, wie kaum ein Platz an der Nordseeküste.
Wir suchten den Parkplatz mit vielleicht zwei Dutzend Stellplätzen auf. Daneben ein Fußballplatz, nicht einmal ein Kiosk. Die Schafe liefen an der Badestelle entlang. Noch war es nicht sommers genug, sie auf andere Deichabschnitte zu verteilen. Zehn Strandkörbe standen im Aufbaumodus herum, nicht abgeschlossen.
Eine Handvoll Touristen hatte den kalten, aber sonnigen Tag genutzt, die neuen Funktionsjacken auf dem Fahrrad auszuführen, Drachen steigen zu lassen oder das ausgeliehene eBike einem Belastungstest zu unterziehen. Niemand war Hasadeur genug, bei Wind, 11 Grad Wasser- und Lufttemperatur in die Nordsee zu gehen.
Niemand? Fast niemand? Wir freuten uns am Strandkorb, auf dass die Hosen nicht davon geweht wurden. Wir stiegen die kleine Treppe hinab. Fester Sand. Die Nordsee machte klar, hier wird nicht gespielt, 11 Grad sind kälter als sonst an Pfingsten. Nach wenigen Schritten ließ der Schmerz nach: ob ich mich daran gewöhnt hatte? Ob die Beine taub geworden waren? Ich weiß es nicht. Ich hielt Ausschau nach Quallen, blau und weiß und rot. Die Kälte kroch in die Oberschenkel. Keine Quallen, keine Krebse. Vielleicht war es ihnen noch zu kalt.
Nipp- und Spring, Spring- und Nipp.
Und während ich so stand, hatte ich Zeit über den Mond, Ebbe und Flut nachzudenken. Denn die Kälte blieb in den Oberschenkeln. Weiteres Waten ins führte nicht tiefer ins Wasser. Wasserstand knapp über Kniehöhe. Wie immer im Watt ging es direkt hinter dem Einstieg einige Zentimeter nach unten, dann nach fünf Metern in der Nachbrandungszone wieder ein paar Zentimeter nach oben. Das Land ist flach, der Wattenboden auch, wir blieben beim Flachwasserwaten.
Ich versuchte nachzuvollziehen, wie der Mondstand war, ob die Gezeiten bei Vollmond oder Halbmond besonders schwachbrüstig ausfallen und welcher Mondstand zu Pfingsten war. Bei Vollmond stehen sich Sonne und Mond gegenüber. Daraus folgt, die Schwerkraft wirkt nach oben und unten. Und das bedeutet?
Ich versuchte, mich vom Denken abzubringen, Salzwasser, Wind, Sonne zu genießen. Sollte ich Schwimmen? Wohl kaum. Vermutlich wäre ich mit dem Bauch über das Watt geschlittert, sicher mit Knien und Handgelenken. Austerfischerkreischen und abendliches Gruppenmähen der Schafe mischten sich zu einer Geräuschkulisse, die mir jegliches Grübeln austrieben. Der Wind vertrieb die Gedanken, machte deutlich, dass die Luft genauso kühl war wie das Wasser. Untertauchen wäre schön!
Fünf Tage nach Halbmond
Erst später, während wir bei Fisch Möller in Büsum auf die obligatorische Pfingstscholle warteten, recherchierte ich dem Mond hinterher. Auf der Erde existieren zwei Gezeitenberge, die sich jeweils am anderen Ende des Erdballs befinden. Erzeugt werden diese durch die Anziehungskraft von Sonne (Ein Drittel) und Mond (Zwei Drittel). Stehen Mond und Sonne in einer Linie (Neumond oder Vollmond) verstärkt sich der Effekt. Die Gezeiten sind ausgeprägt. Stehen sie um 90 Grad versetzt (Halbmond) hebt sich ihre Wirkung auf. Die Gezeiten sind schwächlich.
Allerdings entstehen die Gezeiten in den Ozeanen. An der Nordsee kommt nur deren Überschwapp an. Bis der Überschwapp in die Nordsee gelangt ist, dauert es zwei, drei Tage. Die Rechnung ist verzögert. Halbmond war fünf Tage vor Pfingsten, das bedeutet, wir waren fünf Tage nach Halbmond oder zwei vor Vollmond im Wasser. Wie das auf die Gezeiten wirkte, verstand ich auch nicht mehr.
Zu kompliziert für mich beim Schollenessen mit Krabben. Aber die Welt schenkte uns das Internet und mir im Speziellen die Website des Bundesamts für Seeschifffahrt und Hydrographie. Dort lassen sich Gezeitenhöhen im Vor- und Nachhinein anzeigen.
Für unser Westerkoogbaden sagten die Zahlen: Im nahe gelegenen Büsum lag das Morgenhochwasser am Pfingstsonntag 2021 zum Höchststand um 10:49h bei 3,61 Meter über Seekartenull. Bei Schwankungen für das örtliche Hochwasser, die zwischen 3,20 und 4,00 Meter liegen, und einem mittleren Hochwasser von 3,83 Meter war das recht mittelprächtig. 20 Zentimeter weniger als im Mittel.
20 Zentimeter mehr Wasser unter dem Bauch hätten einen Unterschied beim Schwimmen gemacht. Aber ich kenne das Nordseewatt. Nur dieser Unterschied erklärte nur schwer das Flachwasserwaten.
Wattenhöhenscheide
Vermutlich gibt es eine andere Erklärung: Hedwigenkoog ist nicht nur der koogiste Koog sondern das Watt davor ist das wattigste Watt. Kein Priel nirgends. Reines flaches Watt. Vor Hedwigenkoog liegen die Ziele der längsten Wattwanderungen der deutschen Nordseeküste: Die Wanderungen führen zu den Sandbänken Isern Hinnerk oder Blauortsand. An keinem anderen Punkt der Küste lässt sich derart lange geradeaus laufen, ohne an einen Priel oder tiefes Wasser zu gelangen.
Viele Kilometer flaches Watt, für die Gegend geradezu hochstehendes Land. In direkter Linie von der Küste weg liegt die Wattenhöhenscheide zwischen den Prielen Norderpiep (im Süden) und Wesselburener Loch (im Norden). Das ist fest und flach vor Hedwigenkoog / Westerkoog.
Hinknien
Vor dem Wind in Schutz bringen wäre schön gewesen. Der Winter wollte dieses Jahr nicht weichen. Die Wohnmobilplätze waren bereits reichlich gefüllt. Multifunktionsjacken ließen die Deiche in den grellsten Farben erstrahlen. Die Fahrraddichte am Deichweg kam der Berliner Bergmannstraße nahe. Aber die Jacken blieben an. Nur Mutige setzten sich in den Strandkorb. Ungewohnt zu Pfingsten sahen wir niemand im Wasser. Nicht einmal die Füße dippend.
Dabei war es nicht schlimm. Schließlich spürten wir kaum mehr etwas in den Beinen.
Hinknien, Wasser an anderen Körperstellen. Salzig, lebendig, wieder Natur spüren. Und sie war kalt. Kältester April seit 30 Jahren. Hier hatte sich nichts aufgewärmt. Wir bleiben allein. Madame setzte sich hin, ich blieb beim Knien. Die Saisoneröffnung, noch hatten alle Freibäder geschlossen, fand im Waten und Sitzen statt.
Die Dusche war nicht auf, sondern aus. Sonne und Wind trockneten und schnell. Im Standkorb konnten wir uns verkriechen. Ich konnte auf den Deich sehen. Wenige hundert Meter neben der Badestelle führten betonierte breite Auffahrten aus Beton, die jeden LKW ausreichend Platz zum Wenden gewähren würden, auf den Deich.
Ich konnte mich fragen, warum hier im Westerkoog, am koogisten, friedlichsten und weltabgewandtesten Teil der Schleswig-Holsteinischen Küste breite Straßen über den Deich führten, und das sogar mehrfach.
War es für die Deichbauarbeiter? Wohl schwerlich. Jedes Fahrzeug, das mit Küstenschutz zu tun hat, ist geländegängig. Das benötigt keine betonierten Fahrbahnen, und schon gar nicht hier im Westerkoog. Wie kommt an dieses Ende der Welt, zwischen Schafe, Austernfischer und Fahrradtouristen eine solche Straße?
Die Antwort überraschte selbst mich. Sie lautete: fahrbare Untersätze für Flakgeschütze. Der friedlichste Ort Dithmarschens verdankt seine Existenz der deutschen Wehrmacht. Bevor es sich um den Westerkoog handelte, war es der Luftwaffenkoog. Ein Stück Land, das überhaupt nur existiert, um darauf Krieg zu veranstalten.
Luftwaffenkoog
Die Marschlandschaft ist gemachtes Land. Die Köge wurden aus dem Meer genommen, durch Deiche und Entwässerung besiedelt. Im Mittelalter war Büsum eine Insel. Erst durch die Eindeichung der Köge entstand eine durchgehende Landmasse.
Hedwigenkoog entstand, im wahrsten Sinne des Wortes, 1686, unter anderem um den Landweg zwischen Büsum und Wesselburen zu verkürzen. Der „Hedwigenkooger Sommerkoog“ entstand 1858 und der „Luftwaffenkoog“ 1939 westlich von Hedwigenkoog, an der westlichsten Spitze Dithmarschens.
Eingedeicht und abgetrennt wurde 120 Hektar große Koog im Auftrag der Luftwaffe, die dort einen Flakartillerieschießplatz einrichtete, vermutlich in der Hoffnung, Kampfflugzeuge aus England abzufangen. Die betonierten Übergänge am Deich dienten dazu, dort, am höchsten Punkt des Koogs, Geschütze aufzustellen. Es entstanden im Luftwaffenkoog 30 Baracken in zwei Lagern, eines für die Luftwaffe, eines für Fallschirmjäger.
Ob dort je geschossen wurde, ob das Flak zum Einsatz kam, darüber schweigen die mir zugänglichen Quellen. Aber Bedeutung erlangte Hedwigenkoog wieder nach dem Krieg. Wurden in der weiten Landschaft mit den Kasernenbauten deutsche Kriegsgefangene und Verwundete einquartiert. Zeitweise betreute das „Lazarett Hedwigenkoog“ im Westerkoog direkt nach Kriegsende 2000 bis 3000 Soldaten und einige Zivilisten.
Dazu kam ein Offizierslager. In ihm waren zeitweise knapp die Hälfte der 68 Generäle, 210 Obersten, und 32 Generalstabsangehörigen untergebracht, die in britischer Kriegsgefangenschaft waren. Zeitweise bevölkerten alleine Generäle und Admiräle eine komplette Baracke des Lazaretts. Die Reste der deutschen Wehrmacht.
Dieses Lazarett wurde später kurzzeitig zum regulären Krankenhaus des Kreises. Ebenso dem Lazarett verdankt Hedwigenkoog seine berühmteste Einwohnerin: Die 1943 im Lazarett geborene Jil Sander, deren Mutter vor dem Krieg aus Hamburg in ihre Kindheitsheimat Dithmarschen geflohen war.
Salzwasser, Lämmer, ein Fußballplatz
Bis 1972 diente Hedwigenkoog weiterhin als Munitionslager. Alles, was der aufmerksame Sucher finden könnte, wären Reste des Flak-Befestigungen im Boden. Sonst war im Westerkoog der friedlichste Ort der Welt. Schwalben flitzten über den Deich. Lämmer wirbelten ihr Schwänzchen hin- und her, sobald sie die Mutter wieder gefunden haben. Mähen in allen Tonlagen.
Wellen schlugen an die Metaltreppe, die in das Nordsee führt. Im Meer trieb eine einsame Feder. Gesprächsfetzen über Trümmertorte wehten heran. Ich schloss die Augen, leckte Salzreste von den Lippen, roch, Meer und Gras und Schaf. Der koogiste Koog der Welt.
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